(Dieser Kommentar erschien zuerst am 20.6.2017 in der Wiener Zeitung)
Vor einem Jahr, genau am 24. Juni 2016, hat sich die Europäische Union zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine „Städtische Agenda“ gegeben, um ihre Politikentwicklung besser an die Lebensrealitäten vor Ort anzupassen. Dass es so weit gekommen ist, hat – wie in der Präambel zum „Pakt von Amsterdam“ festgehalten wird – nicht nur damit zu tun, dass bereits heute 70 Prozent der EU-Bevölkerung in Städten leben und sich 73 Prozent aller Jobs in urbanen Räumen finden. Städte tragen, heißt es in der Einleitung zu diesem politischen Dokument, entscheidend zu den Zielen der EU 2020 Strategie bei.
Die lokale Politik sei von allen Regierungsebenen den Bürgerinnen und Bürgern am nächsten. Schön, dass nun eine EU-Strategie der Tatsache Rechnung trägt, dass Europa „von unten“ zu bauen ein lohnender, weil demokratiepolitisch notwendiger und – als „reality check“ für EU-Politik – ein vernunftgetragener Ansatz ist.
Die Hälfte der Städte in der EU zählt zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Einige Mitgliedstaaten, besonders die Niederlande, weisen einen sehr hohen Grad an Urbanisierung auf. In Polen, Slowenien, der Slowakei und Rumänien leben andererseits immer noch 40 Prozent der Bevölkerung im ländlichen Raum. Das „Pentagon“ zwischen London, Paris, Mailand, München und Hamburg ist die am stärksten verstädterte Region Europas, mit zwei Megastädten, in denen über zehn Millionen Menschen leben.
Die urbane Dimension in die EU injizieren – nur wie?
Auf Ebene des Europäischen Rats ist Städtepolitik aber bisher nur informell integriert, die Treffen der für Städtepolitik zuständigen Regierungsmitglieder fanden unregelmäßig statt. Erst vor wenigen Jahren, als der Österreicher Johannes Hahn EU-Regionalkommissar war, wurde Stadtpolitik in den Namen des für Regionalpolitik zuständigen Dienstes der Europäischen Kommission aufgenommen. Bereits davor hatte sich das Europäische Parlament eine eigene Arbeitsgruppe zu urbanen Fragen gegeben.
Es hat aber die tiefe Legitimitätskrise der Europäischen Union gebraucht, um das Potenzial der Städte als Innovationslaboratorien vor Ort nicht nur zu erkennen, sondern in Form eines neuen Governance-Modells anzuerkennen, wie es nun in Aussicht gestellt wird.
Die Europäische Union ist mit (derzeit noch) 28 Mitgliedstaaten und dem oft nur schwer vermittelbaren Zusammenspiel von Rat, Kommission und Parlament schon komplex genug aufgestellt. In dieser Konstellation die vielen Städte mitreden zu lassen, muss organisiert werden. Die EU-Städteagenda unternimmt diesen Versuch, indem sie „Städtepartnerschaften“ zu zwölf wichtigen Themen einrichtet. In diesem neuen Format werden nun jeweils fünf Städte, fünf Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission und weitere wichtige Stakeholder für drei Jahre Empfehlungen zur Verbesserung von EU-Politik aus Städtesicht erarbeiten.
Die gewählten Felder bilden dabei aktuelle Themen ab, wie die Integration von Flüchtlingen, Arbeit und Beschäftigung in der lokalen Wirtschaft, Klimawandel und Energie, digitaler Wandel und vieles mehr.
In der von Wien gemeinsam mit der Slowakei koordinierten Städtepartnerschaft zum Thema Wohnen geht es vor allem darum, für breite Teile der EU-Bevölkerung wieder mehr leistbaren Wohnraum zu schaffen. Denn bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise gab es EU-weit einen deutlichen Rückgang bei der Schaffung von – auch öffentlich mitunterstütztem – leistbarem Wohnraum.
Hohe Wohnkosten schränken Konsum und Vorsorge ein
Die Tatsache, dass die meisten Städte in der EU wachsen, die Folgen der Krise, verfehlte EU-Politik und für Städte oft kaum abrufbare EU-Finanzinstrumente haben zu einer veritablen Misere im europäischen Wohnungsmarkt geführt. Rund 82 Millionen Menschen in der EU leiden unter zu hohen Wohnkosten, was wiederum Konsum und Vorsorge einschränkt. Städte müssen, können aber oft nicht investieren. Es fehlt an Rechtssicherheit und Budgets.
Und es geht nicht nur um neuen Wohnraum, sondern ebenso um die Erneuerung des Bestands, etwa in energietechnischer Hinsicht. Auch weitere Verknappungstendenzen durch neue Plattformen, die Wohnraum für touristische Zwecke entziehen, sind Thema. In der Städtepartnerschaft werden daher Vorschläge für bessere rechtliche und finanzielle Bedingungen zur Schaffung von leistbaren Wohnungen für breite Schichten der Bevölkerung in Städten entwickelt.
Klar ist: Der Wohnungsmarkt in der EU ist auf nationaler Ebene nicht wirklich vergleichbar, zu unterschiedlich sind die Systeme und Traditionen. Lösungen müssen daher die Vielfalt der Systeme und einen breiten Versorgungsansatz berücksichtigen. Der Vorteil einer Investitionsoffensive in leistbaren Wohnraum ist klar: Es sind Investitionen in ein sicheres, langfristiges Modell, von dem die Wirtschaft doppelt profitiert – zunächst unmittelbar durch den Bau, dann aber weiter durch freigesetzte Einkommensanteile für die Nachfrage in andere Konsumgüter.
Städteagenda muss über Projektstatus hinauswachsen
Noch ist es zu früh, Aussagen darüber zu treffen, ob aus Städtesicht bessere Lösungen im Rahmen dieses Experiments machbar sind. Es geht letztlich darum, zu beweisen, dass „multi-level governance“ praktisch gelebt wird. Dazu müssen alle über ihren Schatten springen. Die Europäische Kommission muss die lokale Regierungsebene auf partnerschaftlicher Ebene einbeziehen, Städte müssen ihr lange angelerntes (und oft berechtigtes) Misstrauen aufgeben und europäischer werden, und die Mitgliedstaaten werden wohl oder übel, Kompetenzen in beide Richtungen abgeben müssen.
Dazu ist es wichtig, jetzt in den Partnerschaften vertrauensvoll und sachorientiert zusammenzuarbeiten und die Rahmenbedingungen für diese Zusammenarbeit gemeinsam zu definieren. Die EU-Städteagenda muss über einen „Projektstatus“ hinauswachsen. Die EU-Städtepolitik ist wie eine Hollywoodschaukel. Es muss immer wieder Anlauf genommen werden, damit sich etwas bewegt. Mit der EU-Städteagenda könnte das Bewegungsmoment einen stärkeren Impuls erhalten, um zu einer echten Erneuerung der EU von unten beizutragen.