Eine europäische Agenda für die Rechte der Frauen

Die Österreichische Gemeindezeitung veröffentlicht im Frühjahr 2023 meinen Beitrag zum Stand der Dinge in Gleichstellungspolitik der Europäischen Union

Rund um den Internationalen Frauentag wird darauf hingewiesen, dass noch viel zu tun ist für ein gutes Leben für alle Frauen, auch auf europäischer Ebene. Der Befund zeigt: EU-weit beträgt das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern 13 Prozent, bei den Pensionen sogar 29 Prozent. Jede dritte Frau in der EU war oder ist von Gewalt betroffen, jede zweite Frau hat sexuelle Belästigung erfahren. Eine von 20 Frauen gibt an, vergewaltigt worden zu sein. Städte leisten bereits viel, um die Gleichstellung aktiv voranzutreiben, auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Politik. Apropos Politik: europaweit werden nur 16 Prozent aller lokalen Gebietskörperschaften von Bürgermeisterinnen geführt, und die gewählten Volksvertreterinnen in Gemeinderäten und Regionalparlamenten machen mit 31 Prozent ein knappes Drittel aus[1]. Geht es im jetzigen Tempo weiter, ist die Europäische Union noch mindestens 60 Jahre davon entfernt, die vollständige Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen.


Fortschritte auf EU-Ebene, Backlash in einigen Mitgliedstaaten

Auf Ebene der Europäischen Union ist in den vergangenen Jahren einiges weitergegangen. Im Bereich der Arbeitswelt gab es aufgrund des kontinuierlichen Engagements von Abgeordneten im Europäischen Parlament nach zehn Jahren endlich eine Einigung für mehr Frauen in den Aufsichtsräten börsennotierten Unternehmen und jüngst Fortschritte in Sachen Lohntransparenz und Mindestlohn. Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag für ein Gewaltschutzpaket[2] vorgelegt, der eine europaweite Notrufnummer für Frauen und umfassende Maßnahmen zur strafrechtlichen Verfolgung von Vergewaltigung, weiblicher Genitalverstümmelung und Gewalt im Netz vorsieht. Dazu gibt es ein neues EU-Programm, das Projekte für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, unterstützt. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die strukturelle Benachteiligung von Frauen der gesamten Gesellschaft schadet. Schätzungen zufolge verursacht Gewalt an Frauen EU-weit Kosten in der Höhe von knapp 300 Milliarden Euro pro Jahr[3].

Gleichzeitig bieten die Mitgliedstaaten der EU, v.a. bei Selbstbestimmungsrecht der Frauen über ihre sexuellen und reproduktiven Rechte, ein vermischtes Bild: In Polen wird das Recht auf Abtreibung abgeschafft; Frauen sterben wieder an den Folgen illegaler Eingriffe und Politker*innen, die dagegen öffentlich protestieren, riskieren den Verlust ihres Mandats, gar Haft. In Ungarn müssen Frauen, die sich zu dieser schweren Entscheidung durchringen, vor dem Eingriff Herztöne von Ungeborenen anhören. In Frankreich wiederum beschloss die Nationalversammlung, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in die Verfassung aufzunehmen, um genau so etwas zu verhindern. Was es braucht, hat vor kurzem der Vorsitzende des Gleichstellungsausschusses des Europaparlaments Robert Biedroń vorgeschlagen: Europa muss die Frage der Frauenrechte besser absichern – u.a. mit einem Grundrecht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper.

Städte als Orte der Befreiung und Selbstbestimmung von Frauen

Städte sind schon lange Orte, an denen die Frauen bessere Rahmenbedingungen für ein gutes Leben vorfinden. Sie organisieren Kinderbetreuungseinrichtungen, die Eltern bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zugutekommen, sorgen für ein dichtes soziales Netz und bieten Ausbildungsmaßnahmen und Schulungen an, damit Frauen mehr Chancen im Job haben. So hat die schwedische Stadt Göteborg, angesichts einer Frauenbeschäftigungsquote von nur 50 Prozent im Nordostviertel, mit dem Projekt „Nordost“ ein Angebot entwickelt, um Frauen bei der Suche nach einer Beschäftigung oder einer Ausbildung zu unterstützen. Nantes wiederum will in den nächsten 10 Jahren die erste antisexistische Stadt Frankreichs werden und kämpft gegen das geschlechtsspezifische Lohngefälle, indem es Frauen für Jobbewerbungen und Gehaltsverhandlungen stärkt. Mit „#NégoTraining“, einem kostenlosen dreistündigen Kurs, konnten 7 von 10 Frauen eine Verbesserung ihres Gehalts oder ihrer beruflichen Situation erreichen.

Städte sorgen für aktiven und präventiven Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt, sei es in den eigenen vier Wänden, am Arbeitsplatz, in der Schule oder im öffentlichen Raum, auch im virtuellen Raum. Die Stadt Wien hat ein Kompetenzzentrum gegen Cyber-Gewalt eingerichtet, bei dem städtische IT-Fachleute den Wiener Frauennotruf und die Frauenhäuser in Fällen von Cybergewalt bei der Identifizierung von Spionagesoftware, der Beweissicherung und der Bereitstellung sicherer Geräte unterstützen. Da Gewalt und Gesundheit oft eng zusammenhängen, hat die Stadt Bilbao sich im Rahmen eines Projekts zu Frauen, Gesundheit und Gewalt auf die Stärkung von Migrantinnen konzentriert. „Beauftragte für Empowerment“ arbeiten in ihren Gemeinden an Themen wie Selbstwertgefühl, Konfliktlösung, Familienplanung, Frauenrechten und geschlechtsspezifischer Gewalt.

In den meisten Städten geht es aber um mehr als das: Frauenrechte und Gleichstellung werden in alle Politikfelder eingewoben. Immer mehr Städte machen Frauen aus ihrer Geschichte sichtbar, im Rahmen von Straßenbenennungen, durch das Stiften von Preisen und Stipendien und anderes mehr. Bis vor kurzem entfielen nur 6,6 Prozent der Straßennamen in Brüssel auf Frauen, wodurch Frauen und ihre Leistungen im öffentlichen Raum nahezu unsichtbar waren. Im Jahr 2020 wurde in Belgien im Zuge der Black-Lives-Matter-Kampagne die Rolle von König Leopold II. in der düsteren Kolonialgeschichte des Landes stark hinterfragt. Nun soll einer der bekanntesten Tunnel in Brüssel nach einer Frau benannt werden und die Bevölkerung ist aufgefordert, Vorschläge zu machen. Aber auch kleine Gesten wirken: Die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, hat in ihrem Arbeitszimmer Porträts von wichtigen Frauen der spanischen Geschichte aufgehängt.

Das Empowerment von Frauen muss bereits in jungen Jahren beginnen. Städte setzen daher viele Maßnahmen zur Überwindung geschlechtsspezifischer Stereotype, die sowohl Mädchen als auch Buben schaden, ihre Talente in vollem Umfang zu entfalten. Eine der wichtigsten Maßnahmen hier ist die Förderung von Mädchen und jungen Frauen in MINT-Berufen, wie sie durch den Wiener Töchtertag seit über 20 Jahren in Wien gelebt wird. Eine andere ist die aktive Unterstützung von Frauen als Akteurinnen in der Politik. Der Verband der baskischen Gemeinden begegnet dieser Unterrepräsentation von Frauen mit einem kombinierten Ansatz aus einer verpflichtenden 40-Prozent-Quote für alle Parteien und der Förderung der gewählten Frauen. Dabei wird auch versucht, neue Arbeitsweisen zu etablieren – weg von der traditionellen (männlichen) Politiknorm. Denn nicht die Frauen, sondern die Strukturen müssen sich ändern, damit Gleichstellung erreicht wird.


[1] CEMR Studie „Women in Politics“, Brüssel, 2019

[2] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_1533

[3] https://eige.europa.eu/news/gender-based-violence-costs-eu-eu366-billion-year

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