… und in die Gegenwart und in die Zukunft
Vor kurzem hatte das Wien-Haus in Brüssel die Kulturhistorikerin Lisa Fischer zu Gast. Bereits zum zweiten Mal zeigte sie anhand einer Biografie eines berühmten Wieners auf, wie viele Frauen zusammenwirken, um einen Mann berühmt zu machen. Ihm dabei den ganzen Alltagsquatsch vom Hals halten, ihn fördern, managen und eine Familie samt Haushalt für ihn organisieren. Anhand der Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse zeigte Fischer auf, dass auch das Meisterwerk von Sigmund Freud inhaltlich von vielen sehr klugen Frauen auf den Weg gebracht wurde. Ohne seine Patientinnen (zu 95 Prozent weiblich) hätte es die Psychoanalyse wohl nicht so, wenigstens nicht so schnell gegeben.
Frauen müssen Frauen fördern
Wie das „System Freud“ funktionierte, stellte Lisa Fischer eindringlich dar. „Wien um 1860 war eine einzige Baustelle, etwa wie das EU-Viertel in Brüssel heute“ begann die Kulturhistorikerin ihren Vortrag, um dann den Bogen zu Freuds Familie zu spannen, die sich in Wien niederließ, um den sozialen Aufstieg in der Metropole der Donaumonarchie zu schaffen, und in der er als erstgeborener Sohn besondere Förderung erhielt. Seine vier Schwestern mussten sich ein Zimmer teilen, der Bub hatte eines für sich, um in Ruhe zu lernen und sich auch auf das von ihm erwartete Studium vorzubereiten. Sein ganzes Leben lang wird er von Frauen unterstützt. Es werden ihm von Frauen die Professur verschafft, der Weg zum internationalen Ruhm geebnet und natürlich der Haushalt geführt. Viel später zeigt sich die Tragik der Unsichtbarkeit seiner Schwestern, als zwar die Hilfe aus England dafür reicht, Freud von den Nationalsozialisten freizukaufen (samt Familie, Haushaltshifle, dem ganzen Hausrat, den Antiquitäten, etc.), seine Schwestern aber in den Konzentrationslagern ermordet werden.
Keine Selbstzensur mehr
Seine Patientinnen stammten häufig aus gut situierten, ja sehr reichen, vermögenden Häusern. Die meisten litten darunter, dass sie ihre Klugheit nicht in gesellschaftlich anerkannte Aktivität umsetzen konnten – kein Studium, keine Berufstätigkeit stand ihnen offen. Gerade einmal Salons durften sie führen, wie Berta Zuckerkandl, oder sich um Kunst und gute Werke kümmern. Diese Frustration zeigte sich oft in den als „hysterisch“ beschriebenen Symptomen, gegen die damals gerne Morphium als Allheilmittel eingesetzt wurde. Na, klingelt´s`? Erst durch die Analyse, bei der Traumatisierungen langsam aufgedeckt und aufgelöst wurden, gab es neue Behandlungsmethoden, die nicht zu Sucht und anderen schädlichen Folgen führten. Aber der Anteil dieser klugen, reichen und begabten Frauen an der Entwicklung von Freuds Methode wurde aus der Geschichte wieder hinausgeschrieben. Sie wurden zu anonymisierten Fällen. und am Ende seines Lebens, er selbst war schon sehr krank, war es seine Tochter Anna, die für ihn sprach.
Demokratie ist immer Geschlechterdemokratie
Dank Lisa Fischer erhielt das p.t. Publikum am 3. Juni im Wien-Haus einen sehr guten Einblick in die Zeit, die Sigmund Freud, noch mehr aber noch das Leben der Frauen damals prägte. Das „System Freud“ zeige, so Fischer, dass es wohl sehr einfach sei, wenn so viele Frauen einen Mann fördern, berühmt zu werden. Die Lehren daraus seien „Frauen müssen Frauen fördern“, und „Frauen dürfen keine Selbstzensur üben“. Und das Hineinschreiben der Frauen und ihrer Rolle in die Geschichte sei wesentlich im Sinne einer echten Geschlechterdemokratie, „denn nur, wenn die Geschlechter gleichberechtigt sind, gibt es Demokratie.“ Dem kann wohl nichts hinzugefügt werden. Danke, Lisa Fischer.
Rathauskorrespondenz vom 04.06.2014:
Wien-Haus Brüssel lädt „Auf die Couch“
Eine Analyse von Sigmund Freud durch die Kulturhistorikerin Lisa Fischer
Das Jahr des 75. Todestages von Sigmund Freud nahm das Verbindungsbüro der Stadt Wien gemeinsam mit dem Österreichischen Kulturforum Brüssel zum Anlass, die deutschsprachige Community in Brüssel „Auf die Couch“ zu laden. Unter den rund 80 Gästen befand sich auch der österreichische Botschafter in Belgien und zur NATO, Karl Schramek. „Freud und Wien sind untrennbar verbunden“ sagte die Leiterin des Verbindungsbüros Brüssel, Michaela Kauer, in ihrer Begrüßungsrede, „auch, wenn diese Verbindung schwierig war und 1938 in die erzwungene Emigration Freuds vor den Nationalsozialisten nach London mündete.“ Seine Arbeiten zur Entwicklung der Psychoanalyse seien bis heute richtungsweisend und hätten einen wichtigen Aspekt unseres Lebens vor den Vorhang geholt, der bis dahin als Hysterie und Spinnerei abgetan worden sei. Dennoch müsse auch ein kritischer und durchaus ironischer Blick erlaubt sein.
Lisa Fischer: Frauen wieder in die Geschichte hineinschreiben
Diesen anderen Blick auf Freuds Leben und Schaffen gab die Kulturhistorikerin und Fin de Siècle-Spezialistin Lisa Fischer bei ihrem Vortrag zu Leben und Werk des Begründers der Psychoanalyse. „Sigmund Freuds Erfolg beruhte auf einer geglückten Kooperation mit seinen Patientinnen, die er in der Folge in ihrer Leistung als Mitentwicklerinnen der Psychoanalyse aus der Geschichte hinausschrieb,“ verdeutlichte Fischer, „daher dürfen die Psychoanalyse und ihr Begründer im 21. Jahrhundert kritisch betrachtet werden. Vor allem von feministischer Seite wurde sein Erbe im Sinne eines geschlechterdemokratischen Ansatzes weiterentwickelt.“ Lisa Fischer erhielt 2012 das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik und den Käthe-Leichter-Preis für Frauenforschung.
Kooperation mit dem Österreichischen Kulturforum Brüssel
Mario Vielgrader, Direktor des Österreichischen Kulturforums Brüssel, betonte „Wien ist nicht nur eine der lebens- und liebenswertesten Städte weltweit – wie internationale Rankings regelmäßig zeigen – sondern hat auch unzählige Persönlichkeiten von Weltrang hervorgebracht. Lisa Fischer teilt ihr bemerkenswertes Hintergrundwissen über diese Wienerinnen und Wiener auf äußerst interessante und unterhaltsame Weise – ein herzliches Dankeschön an Wien, das Wien-Haus in Brüssel und Frau Fischer für einen wunderbaren Abend!“
Ausstellung: Freuds Reisen. Kulturelles Erfahren – psychoanalytisches Denken
Eine aktuelle Ausstellung der Kuratorinnen Daniela Finzi und Simone Faxa im Freud-Museum in Wien geht noch bis 5. Oktober 2014 den zahlreichen beruflichen und privaten Reisen Sigmund Freuds nach.
Sigmund Freud Museum, Berggasse 19, 1090 Wien, täglich 10-18 Uhr
http://www.freud-museum.at
Auch Gustav Klimt funktionierte durch ein Frauensystem
Die gleiche Übung gab es bereits 2012 zu Gustav Klimt. Danach konnten wir den „Kuss“ nie wieder unbefangen ansehen. Mehr dazu finden Sie hier in der Rathauskorrespondenz.