Die Österreichische Gemeindezeitung veröffentlichte im Frühjahr 2022 meinen Beitrag zum Stand der Dinge in der Städtepolitik der Europäischen Union.
Gut zwei Drittel der Menschen in Europa leben heute in Städten – doch wieviel „Stadt“ ist in den EU-Politiken? Wo sind die Momente, in den Städte im vielstimmigen europäischen Konzert mitsingen, gar ein Solo vortragen dürfen? Und wie viel Raum gibt die Europäische Union den Städten institutionell?
Der globale Trend in Richtung Urbanisierung ist auch in Europa zu verzeichnen. Der Großteil der urbanen Bevölkerung in der EU lebt heute in Städten zwischen 250.000 und einer Million Einwohner*innen und die Hälfte der Städte in der EU zählt zwischen 50.000 und 100.000 EinwohnerInnen. Bis 2080 werden Schätzungen zufolge 90 Prozent der Menschen in der EU in urbanen Räumen leben. Wir leben in einem Jahrhundert der Metropolen. Das Bild in der Europäischen Union ist durchwachsen. Einige Mitgliedstaaten, allen voran die Niederlande, weisen einen sehr hohen Grad an Urbanisierung auf. In Polen, Slowenien, der Slowakei und Rumänien wiederum leben immer noch 40 Prozent der Bevölkerung im ländlichen Raum. Das „Pentagon“ zwischen London, Paris, Mailand, München und Hamburg ist die am stärksten urbanisierte Region Europas, mit zwei Megastädten, in denen über 10 Millionen Menschen leben.
Völlig klar ist, dass in Städten die wesentlichen Fragen der Zukunft gelöst werden müssen: Städte müssen Antworten auf die Klimakrise, eine nachhaltige, kreislauforientierte Wirtschaft, intelligente Verkehrsmittel geben. Sie sind gefordert, den sozialen Zusammenhalt zu sichern, mit klugen Empowerment-Strategien, einer Ausbildungsgarantie für die Jungen, einer sicheren Versorgung mit Gesundheits- und Sozialdiensten für alle. Nicht zuletzt müssen sie den öffentlichen Raum, ihr Territorium so organisieren, dass er sicher und bequem, gesund und grün ist, und zwar gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern.
All diese Anforderungen an Städte sind angesichts knapper Budgets, sinkender Steueraufkommen und einem Defizit in der Steuerungskompetenz, die oft auf nationaler Ebene liegt, nicht leicht zu stemmen. Dennoch haben die Städte in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie zu Innovationen fähig sind und auf vielen Gebieten „smarte“, „resiliente“, im Grunde also intelligente und integrierte Lösungen entwickeln.
Die urbane Topografie Europas auf institutioneller Ebene widerspiegeln
Während viele Länder in Europa noch gar keine ausgewiesene Stadtentwicklungspolitik haben, weisen andere eine lange Tradition auf, und die Organisation, die „Governance“, zeigt eine große Vielfalt. Auf Ebene der Europäischen Union gibt es seit langem Bemühungen, der urbanen Realität gerecht zu werden. So hat das Europäische Parlament eine eigene Arbeitsgruppe (die „Urban Intergroup“ zu urbanen Fragen eingerichtet, die sich immer wieder als zentrale Bündnispartnerin für die Anliegen der Städte in Richtung EU erwiesen hat. Auf Ebene des Europäischen Rats wird Städtepolitik nur informell verhandelt, handelt es sich doch um eine Kompetenz der Mitgliedstaaten. Die Treffen der für Städtepolitik zuständigen Minister*innen fanden lange nur sporadisch statt; erst seit 2016 – „geboostert“ durch den Pakt von Amsterdam – gibt es hier einen regelmäßigen Austausch.
Die Europäische Kommission hat schon lange erkannt, wie wichtig die Städte bei der Umsetzung einzelner Politikvorhaben ist. Themen wie städtische Mobilität, „smart cities“, ein eigener Budgetstrang in den Regionalförderungen für urbane Projekte waren wichtige Schritte. Es hat aber lange gedauert, um das Potenzial der Städte nicht nur punktuell, in einzelnen Themen aufzugreifen, sondern in Form eines neuen Governance-Modells anzuerkennen, wie es mit dem „Pakt von Amsterdam“ 2016 eingeläutet wurde. Das alles fiel nicht vom Himmel, sondern ist langjährigen Bemühungen von Bürgermeister*innen, Organisationen wie dem Rat der Gemeinden und Regionen Europas oder Eurocities und nicht zuletzt dem Europäischen Ausschuss der Regionen zu verdanken, dass die Notwendigkeit, urbanes Wissen in EU-Politikentwicklung zu integrieren, sich auch in Ansätzen auf institutioneller Ebene aufgenommen wurde.
Gemeinwohlorientierung im Fokus der EU-Städteagenda
Während der Pandemie wurden zwei neue Kerndokumente zur EU-Städteagenda, die „Neue Leipzig Charta“ im November 2020 unter deutschem EU-Ratsvorsitz, und das „Abkommen von Ljubljana“ Ende letzten Jahres unter slowenischer EU-Präsidentschaft beschlossen. Sie bauen auf den Erfahrungen auf, die im Rahmen der Städtischen Agenda für die EU ab 2016 ausgelöst wurden. In diesem mehrjährigen Prozess konnten 14 thematische Partnerschaften aufzeigen, wo am EU-Regelwerk gedreht werden muss, um bestimmte Politikfelder städtegerechter zu gestalten. Oft ging es dabei um ein besseres Wissensmanagement, den Erfahrungsaustausch oder den Aufbau von Kapazitäten, genauso häufig aber auch um die Frage, wie Städte EU-Förderungen ansprechen können und wie rechtliche Rahmenbedingungen verbessert werden sollen. Die Bilanz der Arbeit kann sich sehen lassen: rund 160 konkrete Maßnahmen wurden vorgelegt, und das Arbeitsformat selbst – eine enge Zusammenarbeit von Städten, Mitgliedstaaten und EU-Institutionen hat gezeigt, dass „multi-level governance“ zu intelligenten und tragfähigen Ergebnissen führt.
Amsterdam – Leipzig – Ljubljana
Die im November 2020 unter deutschem EU-Ratsvorsitz beschlossene Neue Leipzig Charta unter dem Leitmotiv „Die transformative Kraft der Städte“ knüpft also an diesen Ergebnissen an und formuliert nun erstmals inhaltliche Ziele der Stadtentwicklung, in deren Mittelpunkt das Gemeinwohl steht. Sie bettet dies in konkrete Handlungsdimensionen ein – Städte sollen „gerecht, grün und produktiv“ sein – und identifiziert Schlüsselprinzipien guter Stadtpolitik, wie integrierte Ansätze, Beteiligung, Koproduktion und Mehrebenenkooperation. Es geht um einen stark ortsbezogenen Ansatz, bei dem drei räumliche Ebenen gemeinwohlorientierten stadtpolitischen Handelns in den Mittelpunkt gerückt werden – von der Nachbarschaft über die Gesamtstadt bis zur Stadtregion.
In einem nächsten Schritt ging es darum, erneut – wie beim Pakt von Amsterdam – eine Arbeitsebene zu definieren, die Zusammenarbeit konkret zu regeln. Das wurde 2021 unter portugiesischem und slowenischem EU-Ratsvorsitz verhandelt, wobei hier die Städte und Regionen über ihre europäischen Verbände mit am Tisch saßen. Nach diesem fast einjährigen Prozess wurde – wieder im Rahmen eines Informellen Treffens der Minister*innen für Stadtentwicklung – das „Abkommen von Ljubljana“ beschlossen. Diese Weiterentwicklung der EU-Städteagenda legt nun einen stärkeren Schwerpunkt auf die kleineren und mittleren Städte, die auch für eine aktive Teilnahme an künftigen Partnerschaften Unterstützung erhalten sollen. Künftige thematische Partnerschaften sollen weiter auf die Formulierung von Vorschlägen zu einer besseren Rechtssetzung, besseren Förderungen und besserem Wissensmanagement auf EU-Ebene beitragen. Neben thematischen Partnerschaften sind auch andere Formen der Kooperation angedacht – kürzer, kompakter und fokussierter. Auf Ebene der Mitgliedstaaten sollen „National Contact Points“ für urbane Fragen eingerichtet werden, die einen engeren Austausch mit kommunalen Gebietskörperschaften ermöglichen. Nicht zuletzt wird es wieder eine Unterstützungsstruktur der Europäischen Kommission geben, die künftig über die „European Urban Initiative“ abgewickelt werden soll. Zu vier Themen – Städte der Chancengleichheit, Nahrungsmittelpolitik, nachhaltiger Tourismus und Begrünung der Städte – werden ab 2022 neue thematische Partnerschaften gebildet.
Insgesamt sind dies alles Schritte in eine gute Richtung, denn erneut werden Städte gemeinsam mit Mitgliedstaaten, EU-Institutionen, relevanten Stakeholdern und mit organisatorischer und wissenschaftlicher Unterstützung an Themen, die für die Lebensqualität der Bevölkerung wichtig sind, arbeiten. Offen bleibt allerdings noch immer die Frage, wann es soweit ist, dass Städte auch institutionell an der Entwicklung der Europäischen Union beteiligt sein werden.