Ein „cordon sanitaire“ gegen die extreme Rechte im EP

Europas konservative Eliten haben sich ihr Europa wieder gewählt

Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind geschlagen und das Bild, dass sich uns in den EU-28 bietet, ist jedenfalls durchwachsen. Die Wahlbeteiligung von durchschnittlich 43 Prozent, in einem Land gar nur 13 Prozent (!) ist demokratiepolitisch beunruhigend. Die Konservativen liegen trotz Verlusten wieder vorne und die Gewinne der extremen Rechten und Nationalisten sind höchst alarmierend. Wenn sich am 1. Juli das neue Europäische Parlament konstituiert, brauchen wir sofort einen „cordon sanitaire“, um zu verhindern, dass die EPP sich der extremen Rechten und Nationalisten für Mehrheitsbeschaffungen bedient.

Mobilisierung für ein progressives Veränderungsprojekt nicht gelungen: Too little, too late

Tatsache: Seit den ersten direkten Wahlen zum Europäischen Parlament ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich gesunken und mit einer Stärkung des konservativen, neoliberalen und marktradikalen Flügels einhergegangen. In Österreich sind bei einer Wahlbeteiligung von 45,97 Prozent leider mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler den Urnen ferngeblieben. Dass wir „leicht“ über dem EU-Schnitt liegen, ist zwar fein, aber noch lange nicht genug. Als SPÖ konnten wir unseren Mandatstand von fünf Abgeordneten halten. Die ÖVP hat ein Mandat verloren, die Grünen eines dazugewonnen, die FPÖ steht wieder bei 4 und die Neos werden eine/n Abgeordneten stellen. Anstelle von 6 „verlorenen“ Mandaten sind es aus Östereich „nur“ mehr 4. Ganz offenkundig waren wir zuwenig in der Lage, die Menschen für das so notwendige Veränderungsprojekt zu mobilisieren. Nach einem fulminanten Wahlauftakt der SPÖ mit Martin Schulz in der Hofburg am 17. März 2014 diffundierte der Wahlkampf weitgehend in den Sektionen, Ländern und Organisationen der SPÖ – mit viel kreativer, positiver Energie und einem beeindruckenden Einsatz vieler ehrenamtlicher HelferInnen auf lokaler Ebene. Dennoch hat es nicht ausgereicht. Das hat viele Gründe.

Der erste europäische Wahlkampf?

Wie „europäisch“ dieser Wahlkampf nun tatsächlich war, stellt sich differenziert dar. Mit Sicherheit hatte die Zuspitzung auf eine Auseinandersetzung zwischen den zwei großen Lagern, mit Martin Schulz für ein sozial gerechtes Europa auf der einen, Jean-Claude Juncker für „more of the same“ auf der anderen Seite, das Potenzial für eine höhere Mobilisierung. Dennoch hat sich der Wahlkampf in erster Linie innerhalb der politischen Klasse abgespielt, die mit von Eitelkeit triefendem und abstraktem EU-Jargon zu Übersetzungsleistungen an die Menschen kaum mehr in der Lage ist. Dafür hat der Boulevard in Print und Funk uns täglich mit neuen Blödsinnigkeiten überschwemmt, die im besten Fall völlig verkürzt und verzerrt, meist bar jeder Wahrheit waren. Wir werden sehen, ob wir 2019 bei den nächsten Wahlen tatsächlich mit europäischen Listen der Parteien antreten und was das dann zu bewegen vermag.

Europa als Elitenprojekt

Ohne allzuviel Energie an Verschwörungstheorien zu verschwenden, der Befund zeigt, dass das europäische Einigungswerk, so großartig es im Grunde sein mag, weit weg von den Menschen ist. „Ich kann nichts ändern mit meiner Stimme“, „die hören eh nicht auf uns“, „wozu soll ich wählen, die machen eh, was sie wollen“ waren Sätze, die wir sehr oft in diesem Wahlkampf, auf der Straße, in den Betrieben, auf den Märkten gehört haben. Und das alles waren keine anti-europäischen Aussagen, sondern Ausdruck eines Unbehagens, das auf Desinformation und Vertrauensverlust in die politische Machbarkeit von Veränderung gründet. Die „Eliten“ Europas, die großen Finanz- und Bankinstitutionen, die transnationalen Konzerne, sie alle haben es geschafft, dass der Souverän sich abwendet. Objektiv zum eigenen Schaden, subjektiv verständlich. Und praktisch: die Jungs bleiben jetzt wieder unter sich hinter verschlossenen Türen. Realwirtschaft, ArbeitnehmerInnen, Umweltschutz, Zivilgesellschaft und v.a. die Menschen zahlen drauf.

Klare Absage an die extreme Rechte und die Nationalisten im Europaparlament

In der letzten Legislaturperiode haben sich die Konservativen durchaus immer wieder der extremen Rechten bedient, etwa beim Estrella-Bericht, in dem es um das Selbstbestimmungsrecht der Frauen ging und der von einer Allianz der Fundamentalisten im EP zu Fall gebracht wurde. Sollten sich die extreme Rechte und die Nationalisten zu einer Fraktion formieren (und erste Indizien gab es ja schon, als die FPÖ als selbsternannte Sparpartei für die Beibehaltung von Strasbourg als EP-Sitz stimmte, um die Chancen auf eine Allianz mit dem Front National intakt zu halten) ist die Gefahr groß, dass sie erneut als Mehrheitsbeschaffer für die EPP dienen – Gegengeschäfte inklusive. Die Sozialdemokratie und die S&D-Fraktion im Europaparlament müssen eine Sperrspitze dagegen bilden. Ein erster Schritt muss die Bildung eines „cordon sanitaire“ sein, einer gemeinsamer Erklärung der pro-europäischen, antifaschistischen, antirassistischen Fraktionen, damit die EPP diese Gruppen nicht zu Mehrheitsbeschaffungen nutzen kann. Seitens der SPÖ hier von der ÖVP Klarheit einzumahnen, wäre da ein erster Schritt.

Bündnis von Städten, Städtenetzwerken, SozialpartnerInnen, Zivilgesellschaft, u.v.m. wichtiger denn je

Wenn wir von einem „Europa der Menschen“ reden, sollten wir uns bewusst machen, wo diese Menschen sind und wie sie leben. 80 Prozent der Europäerinnen und Europäer leben in Städten oder Stadtregionen – das sind vier von fünf! Und von der neuen Europäischen Kommission und dem neuen Europäischen Parlament ist aus Sicht des gestrigen Ergebnisses wieder eine deutliche Akzentuierung in Richtung Binnenmarkt und Wettbewerb zu erwarten. Das bedeutet weitere Angriffe auf integrierte Stadtpolitik, neuerliche Versuche, Liberalisierung und Privatisierung im öffentlichen Sektor voranzutreiben. Das bedeutet weitere Knebel aus Sicht der kurzfristigen Defizitkriterien für den langfristigen Investitionsbedarf der (wachsenden!) Großstädte Europas und neue, gezielte Attacken einzelner Branchen, die Profite wittern, wo Marktversagen herrscht. Das bedeutet kein Ende der auch ökonomisch falschen Austeritätspolitik und weiteres Leid in den Krisenstaaten.

Städte und Städtenetzwerke werden daher gefordert sein, weiterhin Bündnisse mit der Realwirtschaft, den SozialpartnerInnen, der Zivilgesellschaft im Bereich Menschenrechte, Frauenrechte, Entwicklungszusammenarbeit, Minderheitenschutz, Antidiskriminierung, Antirassismus und den NGOs in den Fragen des Umweltschutzes, der nachhaltigen Entwicklung und einer Energiewende zu bilden. Und diese Bündnisse weiterzuentwickeln. Auf lokaler, regionaler, nationaler, europäischer und internationaler Ebene.

Die Sozialdemokratie braucht ihre Internationale und eine klare europäische Agenda – auch in Wien und Österreich

Diese europäische und internationale Orientierung und damit die Bündnisfähigkeit mit anderen gesellschaftlichen Kräften ist angesichts des Wahlergebnisses auch in der Sozialdemokratie selbst mehr denn je gefordert. Und zwar nicht nur im Hinblick auf die nächsten Europawahlen 2019. Das wäre zu wenig. Wir müssen in den kommenden fünf Jahren beweisen, dass wir die politische Familie der Demokratie, der Menschenrechte und des sozialen Fortschritts für alle Menschen sind. Und Vertrauen zurück gewinnen. Dazu gehört auch die Bündnisfähigkeit mit anderen gesellschaftlichen Kräften, auf jeder Ebene der Partei.

Der Wahlkampf hat die erfolgreiche Desinformationsstrategie  „zur EU“ in den eigenen Reihen aufgezeigt. Sätze wie „wir hören ja immer nur kurz vor der Wahl von Europa“ waren nicht selten von Mitgliedern, FunktionärInnen und MandatarInnen zu hören. Und nicht wenige von uns hatten im Wahlkampf dabei ein Déjà-vu, denn auch 2009 waren wir als KandidatInnen damit konfrontiert. Der Wahlkampf hat aber auch gezeigt, dass das Interesse groß ist, und der Wille, sich einzubringen, bei vielen vorhanden. Dafür braucht es ein Angebot, dass wir seit kurzem bereits mit der PES Activists Vienna haben, der lokalen AktivistInnen-Gruppe der Sozialdemokratischen Partei Europas in Wien. Sie versteht sich als Plattform, um immer wieder, und nicht nur kurz vor der Wahl, in und nahe der SPÖ ein Forum für europäische Themen zu haben.

Rederecht für EP-Abgeordnete in den nationalen Parlamenten und Landtagen (wie schon lange in Wien), umgekehrt aber auch die Zusicherung, dass PolitikerInnen der Städte und Regionen im Europaparlament mehr gehört werden, wären erste Schritte in Richtung einer gelebten „Mehr-Ebenen-Demokratie“. Das lässt sich immer machen, das wollen wir schon lange. Regelmäßige Europaberichterstatttung in Parteisitzungen und bei Parteitagen zu organisieren, ist nicht schwierig. Immerhin wirken sich so viele Entscheidungen der EU auf unser Leben, unseren Alltag aus, dass wir als EU-ExpertInnen verpflichtet sind, die FunktionärInnen und MandatarInnen der SPÖ mit Hintergrundinformation und Argumenten auszustatten. Damit die Übersetzungsleistung zu den Menschen dann auch laufend, und nicht nur kurz vor der nächsten Europawahl funktioniert.

Beschlusslage in der Wiener SPÖ klar

Zur internationalen und europäischen Arbeit der Sozialdemokratie gibt es eine entsprechende Beschlusslage der Wiener SPÖ nach einer Initiative der SPÖ-Sektion Brüssel gemeinsam mit der Wiener SPÖ-Bildung bereits seit 2013. Im Herbst 2014 wird sie dem Bundesparteitag der SPÖ zur Diskussion und Beschlussfassung vorliegen. Den Text dieser Resolution „Gelebte internationale Solidarität – Zur internationalen und europapolitischen Arbeit der SPÖ“ finden Sie hier: SPÖ-Brüssel Antrag zur Sozialdemokratie in der Welt und in Europa.

Hinweise und Termine:

Am 11. Juni 2014 findet eine Veranstaltung zu „Sozialdemokratie und Europa – quo vadis?“ um 19 Uhr im Gasthaus Sittl, 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 51, statt. Mehr finden Sie in Kürze auf meinem Blog.

Wie der weitere Fahrplan auf europäischer Ebene voraussichtlich aussieht, lesen Sie hier.

Eine erste Ergebnisübersicht finden Sie hier.

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